Cover
Titel
Der große Aufbruch. Globalgeschichte der frühen Neuzeit


Autor(en)
Behringer, Wolfgang
Reihe
Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung
Erschienen
München 2023: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
1.319 S., 119 Abb., 35 Karten und Grafiken
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Reinhard, Freiburg

Bereits das erste Wort des riesigen Buches ist eine Art von Zitat: „Apologie“ heißt nämlich die umfangreiche Einleitung, die dem Leser in flotter Sprache „mit einigen Appetithäppchen Lust auf die globale Frühe Neuzeit machen möchte“ (S. 66). In quasi sokratischer Manier provozierend verteidigt Behringer darin sein Vorhaben einer Globalgeschichte in Episoden durch einführende ausführliche Vorwegnahme strategischer Bestandteile des Buches, gewissermaßen Selbstzitate daraus, die ihrerseits mit zitierfähigen Schlagwörtern überschrieben sind.

„Hanno der Elefant“ Papst Leos. X. spricht Portugals Anfänge in Indien an. „Neue Welt“ behandelt Kolumbus und die Anfänge der Conquista, die klug und ausgewogen quellenkritisch beurteilt werden. Mit „Khanbaliq“, der alten Hauptstadt des chinesischen Imperiums, kommt dann der globale Seeweg nach Westen mit seinem asiatischen Hintergrund seit Marco Polo und Ibn Battuta zur Sprache. „Neue Zeit“ bietet einen Abriss der muslimischen und europäischen Entdeckungen und ihrer Wahrnehmung samt Protagonisten wie Piri Reis, Anghiera, Vespucci und Mercator. Denn die Neuzeit habe in der Tat mit den Entdeckungen begonnen. Anschließend beschreibt „Columbian Exchange“ (Alfred W. Crosby) den globalen Austausch von Pflanzen und Tieren.1 „American Holocaust“ (Russell Thornton) setzt sich sorgfältig und sachkundig mit der Las-Casas-These vom angeblichen spanischen Massenmord an den Indigenas und den neuesten epidemiologischen Erkenntnissen auseinander.2 „Silberfluss“ bezieht sich auf die wenig bekannte Tatsache, dass der erste „Rio de la Plata“ seinen Namen schon 1536 in Bolivien erhielt (im heutigen Sucre). Im Hintergrund steht dabei die Ablösung des chinesischen Papiergelds durch die neuen globalen Silber- und Warenströme und den zugrunde liegenden Bergbau. Als typisches Nebenprodukt unter angehäuften Lesefrüchten erfahren wir, dass die erforderliche Quecksilbergewinnung für Amerika zu Entwaldung Sloweniens geführt habe (S. 51). „Der Planet atmet“ (Charles D. Keeling)3, was Behringer als Experte klima- und vulkangeschichtlich im Einzelnen darlegen kann samt einem Hinweis auf die Folgen der Wiederbewaldung Amerikas nach dem Massensterben der Indigenen.

Für den globalgeschichtlichen „Zweck des Buches“ setzt Behringer wie Fernand Braudel auf das Konzept der „Zivilisationen“ und geht dabei behutsam und realistisch mit Gründen für die unbestreitbare Sonderrolle Europas um. Er verzichtet bewusst auf den Versuch einer systematischen Bewältigung des gigantischen Stoffes und will stattdessen eine Auswahl detaillierter Mikrogeschichten mit Schwerpunkt auf außereuropäischen Zivilisationskontakten vorlegen. Als Ansatz sollen 1. Ereignisse von globaler Bedeutung, 2. globale Orte, 3. globale Lebensläufe, 4. globale Strukturen, auch wenn sie nicht explizit thematisiert werden, 5. globale Themen wie Rassismus und Sklaverei dienen (S. 65). Der „Aufbau des Buches“ folgt allerdings grob einer traditionellen Geschichte der europäischen Frühneuzeit mit Vorgeschichte, Aufbruch im 16. Jahrhundert, „Krise des 17. Jahrhunderts“ im Sinne von Geoffrey Parker4, Fortschritt im 18. Jahrhundert und Ausblick ins 19. Jahrhundert. Der „Epilog“ fasst noch einmal zehn Perspektiven zusammen: Weltreisen, kulturelle Renegaten, Massaker, Ethnozentrismus, Hybridisierung, Weltwirtschaft, Weltbevölkerung, Kolonialismus, „Tiefenströmungen“ mit Wiederaufstieg der alten Zivilisationen, „Weltkulturerbe“.

Abschließend gilt „Der Name der Rose“ dem Problem der Vielfalt konkurrierender Gruppen-, Orts- und Personennamen. Gegen Ecos Nominalismus will Behringer allerdings auf der Sachhaltigkeit von Namen bestehen. „Namen sind nicht Schall und Rauch. Sie haben eine Geschichte und sind Gegenstand von Konflikten.“ (S. 69) Er entscheidet sich pragmatisch für ihren jeweiligen Gebrauchswert, aber mit der nötigen Rücksicht auf Empfindlichkeiten. Für die Reflexionen des Rezensenten, dessen eigene Arbeiten er ansonsten ignoriert, über die „unausweichliche eurozentristische Befangenheit“ (S. 70) jeder heutigen Historiographie und Begriffsbildung auch und gerade im Zeichen des postkolonialen Denkens hat er freilich nur Verachtung übrig.5 Schließlich hätten auch andere Zivilisationen ihre Vorurteile gehabt. Ungescheut trägt er daraufhin bereits in der Einleitung mit großer Detailverliebtheit bis hin zu Kuriositäten wie dem Straußenei Leonardo da Vincis (S. 30) den Reichtum an globalem Wissen zusammen, den er gesammelt hat. Neben ausgiebigen Textzitaten gehört auch eifriges Namedropping dazu. Unermüdlich sammelt und erklärt er außerdem alle erdenklichen Originalnamen von Sachen, Gruppen und Personen mit ihren deutschen Übersetzungen und den Lebensdaten.

Der ausgearbeitete Text folgt diesem Entwurf. Seine Kapitel bestehen ebenfalls aus hunderten von Episoden mit durchschnittlich sechs Seiten und flotten Schlagwörtern als Überschriften. Bereits eine Übersicht würde den Umfang einer Rezension sprengen. Manche Episoden folgen zwar aufeinander oder hängen wenigstens irgendwie zusammen. Häufiger ist freilich ein Sprung mit Themenwechsel. Zusammen mit dem eingängigen Stil macht dieser Episodencharakter aber die Lektüre des dicken Buches dennoch zum Vergnügen. Eingängig heißt auch, dass es sich immer um erzählte Ereignis- und Personengeschichte handelt. Im Bedarfsfall werden Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte aber kenntnisreich eingeblendet und gelegentlich auch einschlägige Theorien erörtert, etwa Wallerstein und Franck (S. 515). Die Bebilderung ist eindrucksvoll, nimmt aber mit Kapitel 4 deutlich ab. Freilich könnte die Liebe zum aktuellen Detail manchen Lesenden zu weit gehen. Wir erfahren nicht nur, dass es heute noch Nachkommen des Aztekenherrschers Moctezuma gibt, sondern lesen darüber hinaus „seit 2014 ist Juan José Narcilla de Teruel-Moctezuma y Valcarol, der 6. Herzog von Moctezuma y Toltengo (geb. 1958), Oberhaupt dieser Linie des spanischen Hochadels“ (S. 274). Auf der anderen Seite ist es aber ein Vorzug des Buches, dass regelmäßig unbekannte und nach den üblichen historischen Maßstäben unwichtige nicht-europäische Heldinnen und Helden eigene Episoden bekommen. Die vorgenommenen Neubewertungen vermögen ebenfalls zu überzeugen. Nur dass James Cook allzu verkürzt behandelt und abgewertet wird (S. 759–61, S. 904, S. 929, S. 950), will dem Rezensenten nicht einleuchten. Inhaltlich versuchen die Episoden die außereuropäische Welt möglichst weitgehend zu berücksichtigen. Die europäische Frühneuzeit hingegen kommt eher selten zur Geltung, wenn Europa indirekt beteiligt war oder es sich um seine Alleinstellungsmerkmale handelt wie den Parlamentarismus (S. 145–51) und die neue europäische Wissenskultur. Aus diesem Grund nimmt der europäische Anteil im 18./19. Jahrhundert zu.

Dem Rezensenten sind zwar allerhand Ungereimtheiten aufgefallen: „Oceanus Indicus Superioris“ (S. 23) müsste heißen „Indiae Superioris Oceanus“; Francesco Barberini war der Neffe, nicht der Bruder des Papstes (S. 472) und die Borja-Krise (S. 474) hatte nichts mit Galilei zu tun; Buckingham wird mit Strafford verwechselt (S. 548); auf S. 663 können Lebensdaten nicht stimmen; Friedrich Wilhelm I. war König, nicht nur Kurfürst (S. 726); der Regent war der Neffe, nicht der Bruder Ludwigs XIV. (S. 738); den „Vulkan Nyey“, der auch im Register fehlt, gibt es nicht, denn es ist einfach der neue (nye) Vulkan (S. 830); auf S. 896 muss es „George IV.“ heißen. Das mag angesichts von Behringers Detailverliebtheit ärgerlich sein, spielt aber aufs Ganze gesehen keine Rolle. Denn die Nachprüfung von anderen auffallenden Behauptungen seines Buches hat fast immer mit der Bestätigung seiner Aussagen geendet.

Dazu wurde allerdings weitgehend das Internet herangezogen, was bemerkenswerte, zum Teil fast wörtliche Übereinstimmung mit Behringers Text ergab. Offensichtlich beruht der Reichtum des Werkes weitgehend auf seinen jahrzehntelangen Recherchen im Netz (S. 1005 f.), die freilich nur ausnahmsweise belegt werden. Auch der an und für sich sehr eindrucksvolle gelehrte Apparat des Buches führt nicht für alle Endnoten zu passgenauen Nachweisen, zum Beispiel im Falle des von Japanern für Hasekura Tsunegagas Mexikoreise nachgebauten Schiffes (S. 486 und S. 1102). Woher stammen dann aber jeweils die Ausführungen im Text?

Es könnte freilich sein, dass wir mit dieser Globalgeschichte eine neue Art digital gestützter Historiographie vor uns haben, die überhaupt nur mit großzügigen formalen Vorgaben möglich ist. Auch konzeptionell geht sie großzügig neue Wege, indem sie die Authentizitätsfiktion der Quellen ohne Bedenken übernimmt, obwohl diese uns oft nur westlich gefiltert vorliegt, etwa die Aktivitäten der kongolesischen Prophetin Kampa Vita in Texten italienischer Kapuziner (S. 618–22). Behringer dürfte auch hier den puristischen Bedenken des Rezensenten zum Trotz erfolgreich einen neuen Weg gewählt oder wenigstens erprobt haben. Bleibt angesichts seiner detailverliebten Mikroperspektive allerdings immer noch die Frage offen, ob wir das alles wirklich wissen müssen. Wir müssen zwar nicht, aber es bereitet uns Vergnügen!

Anmerkungen:
1 Alfred W. Crosby, The Columbian Exchange. Biological and Cultural Consequences of 1492, New York 1972, Ndr. London 2003.
2 Russell Thornton, American Indian Holocaust and Survival. A Population History since 1492, Norman / OK 1987.
3 Charles D. Keeling, The Concentration and Isotopic Abundances of Carbon Dioxide in the Atmosphere, in: Tellus 12 (1960), S. 200–203.
4 Geoffrey Parker, Global Crisis. War, Climate Change and Catastrophe in the Seventeenth Century, Yale 2013.
5 Wolfgang Reinhard, Einleitung: Weltreiche, Weltmeere – und der Rest der Welt, in: Wolfgang Reinhard (Hrsg.), 1350-1750 Weltreiche und Weltmeere (Geschichte der Welt 3), München 2014, S. 9–52; Wolfgang Reinhard, Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415-2015, 6. Aufl., München 2023 (1. Aufl. 2016).

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